Ketzerbriefe 119

Mai/Juni 2004



Inhalt

  • Fritz Erik Hoevels
    Vorsicht, Scheiße im Kofferraum! – Das Conterganrad
  • Auf Schnäppchenjagd im Aldiland
  • Flugblatt: Für die »Pille danach« statt dreister Kirchen-Bevormundung!
  • Kirchensteuer auf Behindertenrenten
  • Kirchenstaat Deutschland, ein weiteres Kapitel
  • Flugblatt zum »Fall Chagnon«: Rektor Daniel Bancel will Holocaustleugnung erzwingen
  • Nicola Giovannini
    Der Entwurf für eine europäische Verfassung und sein antisäkularer Artikel 51
  • Aufruf gegen Artikel 51 der künftigen europäischen Verfassung
  • Fritz Erik Hoevels
    Soll es überhaupt mehrere Staaten geben? (Teil II)
  • Leipzig: Wie eine »Live-Diskussion« einmal wirklich öffentlich wurde
  • Tatwaffe Handy
  • Warum dem Staat die Spontis noch was wert sind
  • Peter Priskil
    Der geschändete Peter Weiss
  • Kopftuchverbot in der Türkei
  • Kurz und zwiedenk

Leseprobe aus Ketzerbriefe Nr. 119

Tatwaffe Handy

Wie ich mich im »rechtsfreien Raum« als Telefonterrorist betätigte

Kürzlich berichteten die Medien von einer auf den ersten Blick erstaunlichen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes: die seit 1997 bestehende Leitlinie der Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post, wonach Erwerber von »Prepaid-Handys«, also Telefonen (oder Telefonkarten) mit eigener Telefonnummer und einem auf der Karte gespeicherten Gesprächsguthaben, beim Kauf die eigenen Personalien zur Speicherung vorlegen und nachweisen mußten, obwohl dies für Abrechnungszwecke o.ä. gar nicht nötig war (und zuvor auch nicht so gehandhabt wurde, ebensowenig wie heute noch in vielen Staaten außerhalb der EU), verstoße gegen Grundrechte. Von »informationeller Selbstbestimmung« war da die Rede, von »Datenschutz« – beides in den letzten Jahrzehnten aufgekommene und meist an unpassender Stelle verwendete Modewörter für einen simplen und ekligen Tatbestand: Telefonabhören, Lauschen, dreckiges Rumschnüffeln. Denn nur darum geht es: zwar können auch anonym erworbene Prepaid-Handys abgehört werden, aber die fehlende Zuordnungsmöglichkeit zu bestimmten Personen macht die Sache doch sehr arbeitsam, und Beamte sind faul.
    Hat hier also tatsächlich der Staat durch seine Gerichte das frühere Fernmeldegeheimnis wiederbelebt, ein Grundrecht, das sogar nach Ansicht eines ehemaligen Bundesverfassungsrichters einem »Totalverlust« anheimgefallen ist? Ein Staat, der nach eigenen Angaben durch dieselben Gerichte im Jahr 2002 über 21000 Telefonüberwachungen genehmigen ließ, welche jeweils oft mehrere Anschlüsse und ungezählte Telefonate umfassen, wobei sich seit 1999 eine recht konstante Zunahme um 25% pro Jahr verzeichnen läßt (während ein vielfaches davon vom Geheimdienst einfach ohne richterliche Genehmigung durchgeführt wird, »dasselbe ohne den Dackel« sozusagen)? Ein Staat, der gerade im Begriff ist, die elektronische Kennzeichenerfassung nicht nur bei Lkws, sondern auch bei Pkws durch über den Autobahnen installierte »Mautbrücken« zu ermöglichen und auf diese Weise regelrechte Bewegungsbilder zu produzieren (und mit in den Fahrzeugen eingebauten »OnBordUnits« eine jederzeitige Lokalisierung möglich macht – dies ist derzeit zwar nur für Lkws geplant, aber es ist eine Frage der Zeit, bis die Kfz-Hersteller genötigt werden, derartige elektronische Fußfesseln auch in Pkws zu montieren, wir kennen unsere EU-Pappenheimer...)? Ein Staat, dessen Bundesverfassungsgericht im März 2004 die Verwanzung von Wohnungen – auch mit Videokameras – im wesentlichen abgesegnet hat, beispielsweise bei Delikten wie der »Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats«, wozu auch die »Verunglimpfung des Bundespräsidenten« gehört (wohingegen das »Aufstacheln zum Angriffskrieg« laut Urteil »allenfalls dem mittleren Kriminalitätsbereich zugeordnet werden« kann)? Und was sollte ein Gericht denn zu diesem verfassungsgemäßen Urteil nötigen, in einer Zeit der fehlenden Opposition, des allgemeinen Maulaffenfeilhaltens und einer kindischen Scheinopposition, die gegen all diese Maßnahmen überhaupt nicht protestierte, wohl aber gegen die harmlose »Volkszählung« von 1984, bei welcher man doch gar nicht viel mehr offenbaren mußte, als daß man existiert...?
    Ich konnte es kaum glauben, und da gerade schönes Wetter war, machte ich mich auf in die Frankfurter Innenstadt: solch ein Ding wollte ich haben!
    Zuerst zu ›O2/Viag Interkom‹: »Nein, nein, das wäre ja dann ein rechtsfreier Raum.« Zugegeben, ich mußte kurz schlucken, mit einer solch perversen Aussage hatte ich einfach nicht gerechnet. Polizeilogik also, nun gut, Argumente helfen hier keinesfalls, daher Ironie: »Stimmt, wo kämen wir denn hin, wenn jeder einfach so telefonieren könnte, ganz unkontrolliert und vertraulich? Sollte man nicht auch noch alle Telefonzellen abschaffen? Na ja, unkomfortable Krüppel wurden daraus ja schon gemacht.« Diesmal ist der Lackaffe verdutzt. »Das Telefonieren sollte aus Gründen der Sicherheit ohnehin nur noch staatlichen Behörden erlaubt werden«, ergänze ich, »stellen Sie sich mal vor, welch gefährliche Straftaten am Telefon verabredet werden können...« Viel mehr als Pixel, GPRS, Handylogos und Handyspiele hatte der Bursche ersichtlich nicht im Kopf, und mir schien, seine Formel vom ganz gefährlichen »rechtsfreien Raum« war eher nachgeplappert als von Überzeugung getragen, was freilich nicht heißen soll, er habe sie entgegen seiner Überzeugung geäußert; denn eines hat dieser Menschenschlag einfach gar nicht: irgendeine Überzeugung.
    Wahrscheinlich hatte er seinen »rechtsfreien Raum« in einer Fortbildung aufgeschnappt, beispielsweise unter dem Lernziel »wie gehe ich mit kritischen Fragen um«. Daß es Fortbildungen mit genau diesem Lernziel zumindest bei Beamten gibt, vermutete ich schon lange, zuletzt, als ich mich über ständige schikanöse Geschwindigkeitskontrollen an einer von mir oft genutzten und völlig überflüssigerweise zur »Tempo-30-Zone« erklärten Durchgangsstraße beschwerte. »Sie sind aber der erste, der sich darüber beschwert«, wurde mir entgegengehalten, was einerseits kein Argument ist, andererseits einen Gegenangriff darstellt, der mich zum »Sonderling« machen sollte: der vorwurfsvolle Ton war jedenfalls nicht zu überhören. Wörtlich selbige Formulierung hatte ich bei ähnlicher Gelegenheit schon auffällig oft vernommen, nur wußte ich diesmal zufällig, daß mein freundlicher Nachbar 20 Minuten zuvor gegenüber derselben Person die gleiche Beschwerde vorbrachte – es wurde also gelogen, was sich ein niederer Beamter trotz aller anerzogener Selbstgerechtigkeit nicht ohne weiteres gestattet. Also aufgepaßt und nicht einschüchtern lassen!
    Im Laden von ›vodafone‹ ein ähnliches Bild: die dortige Verkäuferin war vor lauter Linientreue so blöd geworden, daß sie noch nicht einmal meine Frage nach dem Zweck der geforderten Datenerhebung und Registrierung verstand. »Weil ich sonst nicht in den Computer komme« und »weil ›vodafone‹ das so verlangt« – mehr konnte sie nicht bieten. Als ich ihr das Urteil zeigte, welches ›vodafone‹ ja selbst erwirkt hatte, wurde sie laut. Ich machte mich aus dem Staub, denn die Leute begannen sich umzudrehen, und ich wollte schließlich nicht als terroristenverdächtig verfolgt werden...

handy

Daß nur Krimineller oder Terrorist sein kann, wer etwas gegen Schnüffeldrecksäcke hat, behauptet inzwischen jeder brave Zeitungsleser. »Prepaid-Karten entwickeln sich zum idealen Hilfsmittel für Kriminelle und Terroristen« (Focus 14/2004), und auch Al-Qaida nutze die »Tatwaffe Handy« kräftig. Wer sich aber angesichts dieser Lauschereien nicht ekelt, wer – im wahrsten Sinne des Wortes – herrschaftsfreie Kommunikation nicht schätzt, dem ist mangels Rückgrat nicht zu helfen.
    Nach zwei weiteren Versuchen wollte ich schon aufgeben; ich hatte ohnehin nicht damit gerechnet, daß halbstaatliche Institutionen sich in den seltenen Fällen eines guten Urteils daran halten würden. Doch war da nicht noch der Ausländer – war es ein Türke? –, der ganz in der Nähe einen kleinen Telefonladen betrieb? Als ich mein übliches Sprüchlein von dem Urteil bringe, bittet er sogleich darum, eine Kopie der Meldung machen zu dürfen. Natürlich darf er das, der Mensch ist mir sofort sympathisch, was immerhin nicht allzu oft vorkommt. Ja, er habe noch ein Kontingent bereits freigeschalteter Karten von ›vodafone/D2‹ (»CallYa«), er könne mir gerne eine verkaufen. 40 € kostet sie, inklusive 15 € Gesprächsguthaben, welches jederzeit anonym aufgefüllt werden kann. Meine dazugehörige Nummer zeigt er mir auch: 0174... Ich weiß inzwischen, daß dies eine seltene Chance ist, denn das genannte Urteil enthält in Wahrheit eine Hintertür, es erlaubt ausdrücklich eine »gesetzliche Nachbesserung«, und genau eine solche ist das neue Telekommunikationsgesetz, welches voraussichtlich noch in diesem Sommer verabschiedet wird.
    Daher: das Ding ist gekauft! Meinen gerade beendeten Türkei-Urlaub noch in bester Erinnerung, frage ich ihn zum Abschied noch, ob er aus der Türkei komme. »Nein«, sagte der Ladenbesitzer, der sicherlich zehnmal mehr bürgerliches Bewußtsein besitzt als der Durchschnitts-Deutsche (und etwa hundertmal mehr als der deutsche Durchschnitts-Verfassungsrichter), »ich komme aus Afghanistan«. Ich werde ihn weiterempfehlen.

EUR 4,50
ISSN: 0930-0503
Mai/Juni 2004

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